Offener Brief an Wissenschaftsrat | Bündnis Therapieberufe an die Hochschulen

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Offener Brief und Stellungnahme des Bündnisses Therapieberufe an die Hochschulen zu dem Gutachten des Wissenschaftsrates „Perspektiven für die Weiterentwicklung der Gesundheitsfachberufe | Wissenschaftliche Potenziale für die Gesundheitsversorgung erkennen und nutzen“ (Drs. 1548-23), Oktober 2023
Der Rat, der sich nicht traut ….

Licht und Schatten in den Empfehlungen des Wissenschaftsrats zur Weiterentwicklung der Ergotherapie, Logopädie und Physiotherapie.

Sehr geehrter Herr Prof. Wick,
sehr geehrte Mitglieder des Wissenschaftsrates,

am Montag, dem 23. Oktober 2023, haben Sie Empfehlungen zur Weiterentwicklung der Gesundheitsfachberufe in Deutschland veröffentlicht und in einem Pressegespräch vorgestellt. Zu einem Zeitpunkt, in dem die Reformen der Berufsgesetze der Berufe in der Ergotherapie, Logopädie und Physiotherapie vorbereitet werden, sind die Empfehlungen mit Spannung erwartet worden.

Besondere Erwartungen waren v.a. mit der Frage der Voll- bzw. Teilakademisierung der Therapie­berufe verbunden. Leider haben Sie aus der überwiegend richtigen Analyse der gegenwärtigen und zukünftigen Probleme die falschen Schlussfolgerungen gezogen. Oder vielmehr: sich offenbar nicht getraut, die richtigen Empfehlungen auch klar auszusprechen. Was steht in den Empfehlungen des Wissenschaftsrates hinsichtlich der Akademisierung der Therapieberufe?

„Der Wissenschaftsrat empfiehlt, den Aufbau der wissenschaftlichen Disziplinen voranzutreiben und den Fokus der hochschulischen Qualifizierung weiterhin auf den Aufbau primärqualifizierend-dualer Studiengänge in der 2012 empfohlenen Größenordnung von 10 bis 20 % zu richten.“ (S. 67, Hervorhebungen im Original).

Und weiter:

„Der Wissenschaftsrat hält es für einen gangbaren Weg, zunächst mehrere Ausbildungswege (hochschulisch und berufsfachschulisch) offen zu halten, auch wenn sich daraus möglicher­weise andere Probleme ergeben (Konkurrenz der Ausbildungssysteme, Unterhaltung von Doppelstrukturen). Er empfiehlt jedoch, die internationale Entwicklung und Anschlussfähigkeit im Blick zu behalten und in zehn Jahren auf Basis der erreichten Akademisierungsquoten und des erzielten Aufbaus der wissenschaftlichen Disziplinens [sic] differenziert zu prüfen, welche weiteren Entwicklungen erforderlich sind.“ (S. 68)

Sie geben  damit zu erkennen, dass Ihnen zumindest einige der Probleme bewusst sind, auch wenn das Wörtchen „möglicherweise“ versucht, diese Aspekte klein zu halten. Hier trauen Sie sich scheinbar nicht, die Probleme wirklich ernst zu nehmen, denn wie sollte denn keine Konkurrenz der Ausbildungssysteme entstehen? Wie sollten keine Doppelstrukturen unterhalten werden müssen? Die zudem auch erstmal aufgebaut werden müssen, nicht nur an den Hochschulen, auch die Berufsfachschulen werden in vielerlei Hinsicht ‚aufrüsten‘ müssen.

Gravierender ist aber ein weiterer Aspekt, bei dem Sie sich nicht trauen. Dieser bildet sich in dem unscheinbaren Wort „zunächst“ ab, das ganz sicher nicht zufällig gewählt wurde, wenngleich wohl in der Hoffnung, es möge kaum wahrgenommen werden. Denn aus diesem Wörtchen geht hervor, dass es ein später geben wird, ein später, bei dem nicht mehr mehrere Ausbildungswege offengehalten werden sollen. Damit wird in Verbindung mit dem Hinweis auf die internationale Entwicklung und Anschlussfähigkeit nichts Anderes deutlich gemacht, als dass in mehr oder weniger ferner Zukunft der hochschulische Ausbildungsweg der ausschließliche sein wird. Den hinlänglich bekannten und auch von Ihnen benannten Herausforderungen wird in der Tat auf Dauer auch kaum anders zu begegnen sein, aber Sie trauen sich nicht, diese Perspektive klar zu benennen.

Würde man das tun, und das sollte man, dann könnten sich alle Akteur*innen darauf einstellen, individuelle wie kollektive, und ihre berufsbiographischen Strategien bzw. ihre Organisationsent­wicklung darauf ausrichten.

Stattdessen werden Personen und Organisationen hinsichtlich der berufsfachschulischen Ausbildung in einer Sicherheit gewiegt, die trügerisch ist. Es werden Energien und Ressourcen falsch kanalisiert, der Ausbau des primärqualifizierenden Studiums gefährdet und sogar der Rückbau mühsam aufge­bauter hochschulischer Strukturen in Kauf genommen. Wenn es so weitergeht, wird die Hochschulper­spektive für die Therapieberufe an die Wand gefahren – unterstützt von der fehlenden Traute des WR.

Dabei will doch ohnehin niemand eine Vollakademisierung ohne einen (je nach Therapieberuf unter­schiedlich langen) Transformationszeitraum. Hier wird immer wieder ein völlig falscher Eindruck erweckt. Bei der Physiotherapie, dem Beruf, bei dem die Reformüberlegungen schon am weitesten fortgeschritten sind, muss man von 10 bis15 Jahren ausgehen, um die entsprechenden Strukturen zu schaffen und das entsprechende wissenschaftliche Personal professorabel zu qualifizieren.

Sie geben viele wertvolle Hinweise unter dem Stichwort „Entwicklung der wissenschaftlichen Disziplinenbildung“ (S. 48ff). Und Sie beschreiben auch unter dem Stichwort „Gestaltung der Berufs­praxis“ viel Richtiges über die zu entwickelnde Berufspraxis von zukünftigen Bachelor- und Master­absolvent*innen im Versorgungssystem. Wenn man allein dies liest, stellt man sich die Frage, weshalb nicht klar gesagt wird, dass es nicht vertretbar wäre, die so entwickelten Kompetenzen und das so entwickelte Berufsfeld einem großen Teil, nämlich 80 bis 90 Prozent der Patient*innen, vorzuenthalten.

Will man keine neue Form der Zweiklassen-Versorgung (zusätzlich zur privat-gesetzlich-Versicherten-Problematik nun auch noch eine Kompetenz-Lotterie für die Patient*innen insbesondere in den niedergelassenen Praxen, in denen rund 70 Prozent der therapeutischen Versorgung stattfindet), dann muss eine Richtungsentscheidung für die Vollakademisierung jetzt erfolgen. Ergänzt mit einer Roadmap und einer Strategie, wie diese je nach Beruf in einem angemessenen Zeitraum zu erreichen ist. Dass Pläne angepasst werden müssen, ist selbstverständlich. Aber das Denken, Planen, Entscheiden und Handeln muss endlich den Horizont von Legislaturperioden überschreiten. Hier darf sich der WR nicht zum Handlanger einer vom Föderalismus in der Bildungs- und Gesundheitspolitik geradezu gelähmten Bund-Länder-Konstellation machen und einfach mal in 10 Jahren wieder eine Bestandsaufnahme erheben, die möglicherweise zu keinem besseren Ergebnis kommt, als die aktuelle und die vor 10 Jahren. Das ist keine Perspektive, das ist sich heraushalten und zuschauen. Der Rat, der sich nicht traut …

Das Bündnis Therapieberufe an die Hochschulen würde sich freuen, mit Ihnen in den Austausch zu kommen. Für Gesprächsanfragen wenden Sie sich bitte an kontakt@buendnis-therapieberufe.de

Mit freundlichen Grüßen,

Prof. Dr. Bernhard Borgetto
Sprecher des Bündnis Therapieberufe an die Hochschulen